Sonntag, 15. Juni 2014

Drei Tage in Mariupol

An diesem Montag sind wir von Donetsk nach Mariupol gefahren. Über 3 Stunden fährt man in die Hafenstadt.

Direkt neben uns entbricht eine Diskussion zwischen Polizeibeamten und zwei Jugendlichen, die rauchend und trinkend im Abteil Platz genommen haben. Gegen die beiden jungen Männer mit Sportanzügen und tätowierten Armen wirkten die Polizisten eher hilflos und es fällt ihnen schwer sich durchzusetzen. Am Ende verlässt die Polizei den Zug und die Jugendlichen bleiben bis zur Endstation sitzen.

Am Bahnhof standen nur wenige Fahrgäste, die alle wie in einem kleinen Kreis aufs Taxi warteten. Die beiden Männer aus dem Zug scheinen nicht aufs Taxi zu warten. Sie stehen nur am Straßenrand und beobachten genau, was im Umkreis des Bahnhofs passiert.

Nach langem Warten kommt unser Taxi. Der Fahrer startet das Auto und im gleichen Moment bewegen sich die beiden Männer zur Straßenmitte. Einer hält seine Hand in der Hosentasche. Der Taxifahrer gibt Gas und das Auto rast. "Man weiß nie, was diese Typen vorhaben", sagt der Taxifahrer. "Sie können auch eine Kanone in der Hosentasche haben." Er erzählt von vielen Kriminellen, die in der Stadt "krumme Geschäfte machen." Es gibt kaum Laternen vom Bahnhof bis zum Hotel "Spartak", wo wir einige Nächte bleiben wollen.

Doch am Ende einer Straße sieht man plötzlich viel Licht. "Barrikade", sagt der Taxifahrer finster. "Bin gestern gegen 5 Uhr morgens hier gefahren. Einer dieser Kämpfer befahl mir durch den Lautsprecher aus dem Auto auszusteigen." Der Mann erzählte, dass er schnell Gas gegeben hat und sein Auto beschossen wurde. "Haben Sie keine Schusslöcher beim Einsteigen gesehen?"

"Die wollten mein Auto beschlagnahmen", fuhr er fort. Erst neulich sei ein "sehr teures"Auto direkt neben ihm gestohlen worden. Der Fahrer musste aussteigen und die Schlüssel übergeben.

Französische Patisserie in Mariupol
Eine französische Patisserie im Stadtzentrum hat kaum Gäste. Noch weniger Gäste hat ein "Fischerrestaurant" neben unserem Hotel. Obwohl das Lokal für Fischspezialität bekannt ist,
gibt es zurzeit nur norwegischen Lachs. Und das 500 Meter vom Azowschen Meer entfernt.

Kinder vor dem Drama Theater in Mariupol











"Keine Gäste", sagt die Betreiberin. Ein Mittagessen mit Kompott kostet ca. 4 Euro. Dem Koch sei am Vormittag schlecht geworden. Die Betreiberin und ihr Mann kochen das Essen selbst. Die Frau kommt zu uns und fragt, ob wir ihren Kaffee kosten könnten.

Spielplatz von Roshen


"Ich habe neulich neue Bohnen bestellt und wollte Ihre Meinung hören", sagt die Frau. Sie sieht unsere verwirrten Blicke und erklärt, es gebe kaum Gäste. "Vielleicht kann ein guter Kaffee Leute anlocken", sagt sie. Ihr Mann bedient uns und beim Zahlen muss er noch in die Bank gehen. Geld wechseln. "Es gibt nur 40 Hrivna in der Kasse", entschuldigt er sich. Wir fühlen uns unwohl. Die Menschen versuchen überall einen guten Service zu leisten. Kaum Menschen in Cafés. Keiner bucht Hotels. Und riesige Schlangen vor Bankautomaten.




Eine der wichtigsten Straßen in Mariupol, die Georgievskaja, ist durch eine DNR (Donetsk Volksrepublik) Barrikade gesperrt. Keiner kann dadurch gehen oder fahren. Über den Kampf um die Fotos von der am 9. Mai zerstörten Polizeistation unweit der Barrikade haben wir diese Woche geschrieben.

Ein Schnappschuss der Barrikade 














Neben dem verbrannten Polizeigebäude steht eine Frau und weint. Sie will nicht vor der Kamera sprechen. "Die Stadt ist ziemlich klein und überschaubar. Wofür brauche ich diese unnötige Aufmerksamkeit." Sie wohnt in einer Parallelstraße und erinnert sich an den 9. Mai. Zuerst habe sie laute Schüsse gehört. Durchs Fenster habe sie auch zwei Panzer gesehen, die Richtung Polizeistation rollten. Ein Mann war mit seinem Hund in der Nähe spazieren. Ohne Leine. "Er wollte die Hundeleine anlegen, doch der Hund hat sich erschrocken und ist weggerannt. Richtung Nationalgarde. Sie haben den armen Mann erschossen." Die Frau fängt an zu weinen. Ein älterer Mann, eine junge Frau und eine ältere Dame mit ihrem Sohn nähern sich uns. Jeder will erzählen, was er an dem Tag gesehen oder gehört habe. Keiner will aber vor der Kamera sprechen. Als Grund nennen sie alle "Angst." Doch vor wem? Keine Antwort. Also, hier kurz und knapp das Gespräch.

- Am 9. Mai, gegen 10 Uhr habe ich einzelne Schüsse gehört. Ich wohne in der Apatowa Straße. Zehn Minuten später habe ich und mein Sohn Gewehrsalven gehört. Ein starker Geruch von Kerosin war auf der ganzen Straße. Dann haben wir Panzer gesehen.

- Mama, das waren doch keine Panzer. Es waren Schützenpanzerwagen.

- Also, für mich heißt es Panzer. Genau.

Der Mann unterbricht die beiden und will erzählen, was an dem Tag passierte.

- Der Polizeichef Andruschenko wurde aus Kiew nach Mariupol geschickt. Er ist ein pro Maidan Typ und wollte in unserer Stadt Anarchie einpflanzen. Am 9. Mai, dem Victory Day, war hier eine friedliche Demo. Viele Frauen mit Kindern. Also, dieser Andruschenko befahl seinen Leuten, den Polizisten, die friedliche Demos aufzulösen. Diese wollten das nicht. Er hat einem ins Bein geschossen, sperrte sich im Büro ein und rief die Nationalgarde an. 

Emotional und schnell erzählt der Mann diese Geschichte. Wir schaffen es kaum, alles aufzuschreien. Er sagt, mit der Nationalgarde zusammen, käme auch der Rechter Sektor. Auch Oleg Lyaschko sei dabei gewesen. Woher weiß unser Gesprächspartner darüber. "Alle wissen das! Auch die Nachrichten haben das gezeigt."

Dann erzählt die junge Dame.

- Drei Panzer habe ich gesehen. Sie kamen von der Italyanskaya Straße. Die Nationalgarde war aus der Zaporojskaya Oblast. Alle haben Ukrainisch gesprochen und sahen wütend aus. Wir alle, ich war dabei, haben die Hände hoch gehalten und geschrien, dass wir Zivilisten seien und keine Waffen dabei haben. Doch die Männer auf dem Schützenpanzerwagen haben sporadisch geschossen. Ein Mann ist vor meinen Augen totgeschossen worden. 

Der Mann unterbricht die Frau.

- Mehrere Hunderte mutige Menschen haben die Straße blockiert. Sie haben versucht, den Weg zu verbarrikadieren, so dass die Panzer nicht zur Polizeistation fahren. Sie alle haben gerufen: "Wir sind Zivilisten. Lasst unsere Polizei in Ruhe und verpisst euch aus unserer Stadt." Doch die Nationalgarde hat einfach geschossen.

Der Sohn der älteren Dame sagt, dass er am 11. Mai beim Referendum abgestimmt hat. Die anderen nicken und sagen, sie alle haben abgestimmt. Der junge Mann versucht zu erklären.

- Die Tische mit Wahlzetteln waren voll. Hunderte Menschen kamen und wollten abstimmen. Der 9. Mai hat unsere Stadt verändernt. Ich selbst war gegen die DNR, aber nach dem 9. Mai will ich mit der Ukraine nichts zu tun haben. Die Zeiten sind vorbei. Man muss der DNR eine Chance geben.

Dann kommt eine andere Frau dazu und erzählt, dass ihre Bekannte in einer der Leichenhallen der Stadt arbeitet.

- Sie sagte, an dem Tag wurden 49 Leichen geliefert. Einige davon waren Polizisten, die anderen Zivilisten. Viele Körper waren so verbrannt, dass man nicht mehr unterscheiden konnte, ob sie Uniform trugen oder alltägliche Kleidung.

Der Mann schreit die Frau an.

- Was erzählen Sie hier?! In den russischen Nachrichten war die Rede von 200 Toten…

Wir verabschieden uns von den Menschen, die immer noch vor dem verbrannten Haus stehen und diskutieren. In Mariupol gibt es noch ein Gebäude, dass am 9. Mai beschädigt wurde.

Das beschädigte Gebäude des Azovintex in Mariupol
Fragt man die Passanten, ob sie vor der Kamera erklären wollen, was das für ein Gebäude ist, schütteln alle den Kopf. Sieben haben abgesagt, eine ist bereit ohne die Kamera zu erzählen.

- "Hier war irgendein Hotel oder teueres Büro geplant. Dieses schöne Schlösschen gehört der Unternehmung Azovinteks (Азовитекс) eines Oligarchen. Der Millionär heißt Sergei Taruta. Während das Volk nichts hat, wollte dieser Typ hier ein kleines Monaco für sich aufbauen. Ich freue mich, dass die Demonstranten das beschädigt haben. Jetzt hat er Angst auf unserem Leid sein Vermögen so öffentlich zu zeigen."

Ob die Frau die DNR unterstützt?

- "Nein. Definitiv nicht. Ich bin Ukrainerin, spreche jedoch kein Ukrainisch, nur Russisch. Ich will nicht, dass mein Land auseinander fällt. Neulich haben diese "guten Revolutionäre" einen Uhrladen ausgeraubt."


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